Ungeachtet aller Symptome bei Multipler Sklerose „Das Leben mit MS ist anders – aber schön!“

Dagmar Nießen mit Kind (c) Marion Kaden

Die Nebenwirkungen der gängigen Medikamente machten Dagmar Nießen das Leben fast noch schwerer als die Krankheit selbst. Entzündungshemmendes Kortison war für sie die einzige Möglichkeit, die Beschwerden zu lindern und die MS-Schübe hinauszuzögern. Dann hörte sie von der innovativen Kurzzeittherapie. Das sollte ihr gesamtes Leben verändern.

Das Ehepaar Nießen hatte sich gerade das wunderschöne, denkmalgeschützte Fachwerkhaus in Odenthal in der Nähe von Köln gekauft. Voller Energie und mit viel Liebe machten sie sich an die Renovierung. Doch so stark  Elan von Dagmar Nießen anfangs auch war, schwanden schon nach kurzer Zeit  ihre Kräfte. Sie musste sich immer öfter setzen, die Verschnaufpausen forderten in immer kürzeren Abständen ihr Recht. Ihr fehlte immer öfter die Kraft, sie fühlte sich schnell völlig erschöpft. „Die Renovierungsarbeiten machen mich wohl einfach müde“, war ihr Gedanke. Als die Zustände sich allerdings verschlimmerten und sie sich immer schlapper fühlte, suchte sie ihren Hausarzt auf. Der schrieb die Pharmazeutisch-technische Assistentin erstmal krank und verschrieb ihr ein Stärkungsmittel. „Ruhen Sie sich aus, schlafen Sie viel“, war sein Rat.

Wenige Tage später kam ein neues, erschreckendes Symptom hinzu: Dagmar sah plötzlich Doppelbilder! Der Hausarzt schickte sie umgehend zum Augenarzt, der wiederum überwies sie zu einem Neurologen. Nach einer intensiven Untersuchung war für ihn die Diagnose klar: Multiple Sklerose. Da war sie gerade einmal 28 Jahre alt.

Bei der Multiplen Sklerose (MS) greifen die körpereigenen Abwehrzellen das Nervengewebe in Gehirn und Rückenmark an. Bestimmte Bereiche im zentralen Nervensystem entzünden sich chronisch. Akute Krankheitsschübe, die mindestens 24 Stunden andauern, und symptomfreie Phasen wechseln sich ab. Mehr und mehr zerstören diese Schübe dabei die Myelinscheiden (schützende Hüllen der Nervenfasern). Im weiteren Verlauf werden auch die Nervenzellen und -fasern selbst geschädigt. Nervenimpulse werden langsamer oder gar nicht mehr weitergeleitet, was zu den Beschwerden wie zum Beispiel Gefühls-, Seh- und Sprechstörungen, extreme Müdigkeit (Fatigue), Kraftlosigkeit in Armen und Beinen, Muskelverkrampfung beim Gehen sowie Lähmungen führt. In den betroffenen Arealen entstehen Verhärtungen und Narbengewebe, Plaque genannt. Die Autoimmunerkrankung ist nicht heilbar, aber inzwischen sehr gut behandelbar.

„Ich war zuerst sehr erschrocken, auch mein Mann war wie vor den Kopf gestoßen“, erzählt Dagmar. „Aber dann sagten wir uns: So ist es eben, damit werden wir leben können.“ Das war 1999. Sofort nach der Diagnose begann die Therapie, um die Schübe hinauszuzögern und Folgeschädigungen möglichst zu verhindern. Dagmar musste sich Medikamente spritzen, die ihr Immunsystem unterdrückten. Doch die Nebenwirkungen waren extrem unangenehm; so wechselte sie die Präparate. Bei einem dieser Medikamente vertrug sie einen der Inhaltsstoffe nicht und bekam einen anaphylaktischen Schock, eine allergische Extremreaktion des Organismus. Sie musste stationär behandelt werden. Das Einzige, was ihr jetzt noch zur Behandlung blieb, war die Einnahme von entzündungshemmendem Kortison zur Vorbeugung der Schübe.

Wie sollte sie sich nur so noch ihren sehnlichsten Wunsch nach einem Kind erfüllen? Sieben Jahre lang warteten Dagmar und ihr Mann, informierten sich, ließen sich medizinisch beraten – dann waren sie sich sicher und wollten ihre kleine Familie endlich vergrößern. Und 2007 kam ihr Sohn Peter zur Welt. „Während der Schwangerschaft ging es mir soweit blendend“,  erinnert sich Dagmar. „In dieser Zeit hatte ich auch keinen weiteren Schub.“


Doch im darauffolgenden Oktober – ihr Baby war zu dem Zeitpunkt neun Monate alt – passierte etwas, womit keiner gerechnet hatte. Dagmar stand völlig desorientiert im Flur und stammelte vor sich hin. „Mir geht es nicht gut. Arzt.. Arzt.. Arzt …“ Ihr Mann Christoph reagierte geistesgegenwärtig und rief den Notarzt. Dagmar hatte einen epileptischen Anfall, eines der vielen Symptome von MS. Weil die Gleichgewichtsstörungen, Drehschwindel und Koordinationsstörungen so stark waren, war Dagmar eine Zeit lang sogar auf einen Rollstuhl angewiesen.

Die heute 47-jährige konnte und kann stets die guten Seiten sehen und betonen. „Bei mir ist der Verlauf zum Glück nicht so dramatisch. Wegen der MS kann ich mich nur schwer konzentrieren, finde nicht immer die richtigen Sätze, bin schneller müde als andere und habe oft einen Drehschwindel.“, weswegen sie jedoch zum Beispiel nicht mehr Auto fahren kann. Glücklicherweise wird sie von ihrem gesamten Umfeld gut unterstützt. „Meine Eltern, Freunde und Nachbarn bieten oft ihre Hilfe an. Alle sind so lieb“, sagt Dagmar dankbar. „Aber ich brauche nicht viel. Kleinigkeiten, wie Aufräumen, kann ich zum Glück selbst erledigen. Einmal in der Woche bügelt meine Mutter Rita die Wäsche. Und dreimal die Woche kommt meine Ergo-Therapeutin und hält mich fit mit Krankengymnastik.“ Ihr 78-jähriger Vater Karl-Josef und auch ihr hilfsbereiter Nachbar bringen sie zu den ärztlichen Terminen. Aber die großartigste Unterstützung erfährt sie durch ihren Mann Christoph. Dagmar spricht liebevoll von ihm als „gutherziges Heinzelmännchen“ . Der 49-jährige hält das Haus instand, werkelt gerne, führt alle Reparaturen und unterstützt seine Frau in allen Angelegenheiten des Alltags. Kochen beispielsweise gestaltet sich für Dagmar inzwischen schwierig: „Das bekomme ich einfach nicht mehr koordiniert. Meine Hand greift oft daneben.“ Jeden Tag zaubert ihr der gebürtige Kölner ein leckeres Essen auf den Tisch, wie so gerne Bandnudeln mit Champignons in Rahmsauce. Natürlich hilft inzwischen auch der 11-jährige Peter seiner Mama nach Kräften.

„Etwa einmal im Jahr habe ich einen Schub. Dann sind diese Symptome extrem belastend. Der Drehschwindel beispielsweise ist in der akuten Phase so schlimm, dass ich Angst habe, umzukippen. Und meine linke Seite fühlt sich seltsam an. Das ist eine Sensibilitätsstörung.“ Mit den Begleiterscheinungen ihrer Erkrankung musste sie wohl oder übel leben. Oder etwa nicht? Fast 20 Jahre dauerte es bis endlich ein Hoffnungsschimmer aufkeimte. Ein neuartiges Medikament, das MS-Patienten den Alltag erleichtern sollte, war auf den Markt gekommen. Dieses ist ein Kurzzeittherapie und voraussichlich lang anhaltender Wirkung. „Im März begann ich mit der sogenannten oralen Intervall-Therapie. Fünf Tage lang nahm ich eine Tablette täglich, pausierte einen Monat lang und dann nochmal fünf Tage lang je eine Tablette. Dieses wird im kommenden Jahr wiederholt. Und dann brauche ich voraussichtlich 2 Jahre lang nichts mehr einzunehmen. Die Therapie ist ein Traum!“
 
„Seither sind die Beschwerden besser“, freut sich Dagmar Nießen. „Ich hatte keinen Schub mehr. Und mit den leichten Konzentrations- und Koordinationsproblemen kann ich leben. Das Beste für mich ist: Ich spüre keinerlei Nebenwirkungen. Diese sehr kurze Therapie erleichtert mir ungemein meinen Alltag.“


Dagmar nimmt das Leben, wie es kommt und nimmt an ihm teil, akzeptiert ihre Erkrankung und bleibt ansteckend positiv. Ich gehe regelmäßig und gerne mit meiner Mutter walken und, wenn die Umstände passen, stehe ich an unserem Verkaufsstand auf dem Flohmarkt. Das macht mir sehr großen Spaß. Was ich wirklich genieße, sind die Reisen mit meinen Lieben im Wohnmobil. Da bin ich unabhängig, ich habe alles, was ich brauche immer bei mir. Wir fahren oft einfach drauf los und halten an, wo es uns gefällt. Letztes Jahr waren wir in England. Es war herrlich!“, schwärmt die gebürtige Bensbergerin.  „Eines weiß ich sicher. Auch wenn man die Diagnose Multiple Sklerose erhält, geht es trotzdem weiter. Das Leben mit MS ist anders, aber schön!“
Fotos: Marion-Kaden/Poys