
Katrin Klemm hat seit 13 Jahren Multiple Sklerose (MS). Sie ist Mutter einer dreijährigen Tochter. Die Entscheidung für eine Schwangerschaft wurde durch ihren behandelnden Neurologen befürwortet: Es ging darum, mit der Diagnose MS ein Leben möglichst ohne Einschränkungen zu führen. Vor einem Jahr wurde Katrin daher auf ein neues Medikament umgestellt, mit dem ein neues, fast normales Leben möglich ist.
Der erste Eindruck, den Katrin Klemm vermittelt: freundlich, offen und unkompliziert. Dabei hat die 36Jährige seit 13 Jahren Multiple Sklerose (MS). Doch von der schweren Erkrankung ist ihr nichts anzumerken. „Ich habe eigentlich immer gekämpft, und die Erkrankung war für mich so eine Art i-Tüpfelchen“, sagt sie lächelnd, „Außerdem muss es ja irgend jemanden treffen!“ Prägend war für sie das Aufwachsen in einer Patchwork-Familie mit verschiedenen Vätern. Schon mit 12 Jahren hatte sie sich emotional von ihrer Familie zurückgezogen und machte, wie sie sagt, „schon recht früh mein eigenes Ding“. Mit 17 lernte sie ihren Lebensgefährten David kennen und zog zu ihm. Seit 19 Jahren sind die beiden nun zusammen. Die ersten Jahre ging es für das Paar um den Aufbau eines eigenen Lebens: Berufe erlernen, Geld verdienen, sich etwas Gemeinsames aufbauen. Die gelernte Einzelhandelskauffrau arbeitete in Baumärkten, was zum Teil harte körperliche, aufreibende und verantwortungsvolle Tätigkeiten bedeutete.
Einschneidend stellte sich 2005 etwas Unerwartetes ein: „Während des Sommerurlaubs war plötzlich meine rechte Kopfhälfte komplett taub“, erzählt Katrin. Ihre erste behandelnde Neurologin konnte die Erkrankung damals nicht eindeutig bestimmen. Denn zu vielgestaltig können die Symptome einer MS sein. Erst ein Jahr später, nach einem weiteren MS-Schub mit schweren Seh-Problemen, wurde ein sogenannter „Schachbrett-Sehtest“ durchgeführt. „Nach dem Test kam der Klinik-Arzt auf mich zu und sagte: Sie wissen ja, Sie haben MS“, erinnert sie sich, als sei es gestern gewesen. Sie reagierte geschockt, verwirrt und verunsichert: Was sollte nun aus ihrem Leben werden? Weitere Schübe mit Taubheitsgefühlen in Armen oder Beinen machten ihr zu schaffen, bildeten sich jedoch glücklicherweise noch zurück und hinterließen keine körperlichen Einschränkungen.
Katrin bekam Medikamente in Form von Tabletten und Injektionen. „Mich selber spritzen war unglaublich schwer und mit großen Überwindungen verbunden“, erzählt sie, „oft musste mir David helfen“. Neben der Bewältigung der Erkrankung stellte sich für das Paar immer häufiger die Frage: „Können wir mit der Diagnose MS eigene Kinder bekommen? Oder ist das verantwortungslos?“ Katrin berichtet offen von der schwierigen Zeit mit inneren, schweren Konflikten. Um endlich zu einer Lösung zu gelangen, richtete sie ihre Fragen während eines Klinik-Aufenthalts und einer Visite an die Neurologen. Fünf der anwesenden Ärzte schüttelten abratend ihre Köpfe. „Warum nicht!“, ermunterte hingegen Prof. Dr. Thomas Müller, Chefarzt der neurologischen Klinik des St. Joseph Krankenhauses, Berlin, seine Patientin. „Es geht darum, ein normales Leben zu führen“, erklärte Müller damals weiter. Katrin strahlt über das ganze Gesicht, wenn sie sich an diese Begebenheit erinnert. Die inneren Kämpfe hatten ein Ende, und sie wurde bald darauf tatsächlich schwanger.
„Die Schwangerschaft verlief vollkommen ohne die üblichen
Beschwerden. Allerdings hatte ich zum Ende hin 45 Kilo zugenommen, weil
ich immer Hunger hatte und starke Wassereinlagerungen“, sagt Katrin.
Bald nach der Schwangerschaft musste sie wieder mit den Medikamenten
beginnen, um die Erkrankung unter Kontrolle zu halten. „Ich litt unter
schweren Durchfällen und konnte mit meinem Baby kaum das Haus
verlassen“, berichtet sie. Die Eltern ihres Lebenspartners unterstützten
sie, wo sie nur konnten. Auch jetzt ist die kleine Anna mindestens
einmal pro Woche bei den Schwiegereltern in spe.
Mittlerweile ist der Alltag eingespielt. Die heute Dreijährige geht in
den Kindergarten und ist zur Mittagszeit zuhause. Mutter und Tochter
unternehmen täglich etwas, sind zum Beispiel viel draußen im grünen
Berlin. Wenn das Wetter schlecht ist, wird der großzügige Balkon
genutzt, den Katrin liebevoll bepflanzt hat. Neben dem Gärtnern auf dem
Balkon hört sie gern Musik. Auch beim Tanzen kann sie depressive oder
schwierige Momente überwinden.
Seit einem Jahr geht alles viel leichter, denn Katrin nimmt ein neues
Medikament. Es enthält den Wirkstoff Cladribin und ist eine
Induktionstherapie. Das bedeutet, dass nach Gewicht dosierte Tabletten
in zwei nachfolgenden Monaten maximal 5 Tage lang eingenommen werden
müssen. Danach braucht sich Katrin den Rest des Jahres nicht mehr um die
Einnahme von Medikamenten zu kümmern. „Nicht ständig an die Einnahme
denken müssen oder sogar spritzen – was für eine Befreiung!“ freut sie
sich. Hinzu kommt, dass sie seither keine MS-Schübe mehr hat.
„Das ist eine neue Ära für Patienten mit schubförmig verlaufender MS“,
erklärt Prof. Müller. „Denn durch die Einnahme von Medikamenten oder das
Spritzen werden Patienten täglich an ihre Erkrankung erinnert. Nun
können sie weitgehend normal leben“, so der Neurologe. Im zweiten Jahr
ist eine weitere Tabletteneinnahme notwendig. Im dritten und vierten
Jahr müssen gar keine Medikamente mehr verabreicht werden und die
meisten Patienten sind schubfrei. Natürlich werden weiterhin Kontrollen
mit bildgebenden Verfahren wie Kernspintomographien durchgeführt, um die
MS im Blick zu behalten.
Die Befreiung ist für Katrin täglich spürbar. Sicherlich muss sie auf
sich achten, doch hat die Lebensqualität insgesamt in einer Weise
zugenommen, dass Katrin sich beruflich neu orientieren kann: Nach einem
Praktikum in einer Altenbetreuung steht für sie fest, dass diese Arbeit
einen Neuanfang für sie darstellt. „Als ich bei den Senioren war, ist
mir das Herz aufgegangen“, erklärt sie. Vorlesen, sich kümmern oder
einfach da sein, „das ist genau das Richtige für mich“, stellt sie
voller Freude fest. Mit eher temperamentvoller Energie ausgestattet,
erfuhr sie beim Zusammensein mit den Senioren eine Erdung und Ruhe, die
sie bisher nicht kannte. Sie blickt optimistisch in die Zukunft und lebt
bewusst Tag für Tag. „Was die Zukunft bringt, kann niemand wissen“,
sagt Katrin bestimmt. „Unerwartetes kann immer kommen. Und wenn schon:
Menschen mit MS sind Steh-auf-Männchen! Es werden sich Wege finden.“
Der Wirkstoff Cladribin wurde im
September 2017 in Europa und in diesem Jahr in den USA zur Behandlung
der hochaktiven, schubförmigen Multiplen Sklerose (MS) zugelassen.
Cladribin verringert vorübergehend die Zahl derjenigen weißen
Blutkörperchen (Abwehrzellen), die bei der MS die schweren Schäden im
zentralen Nervensystem verursachen. Vorteil: das hochwirksame Medikament
wird lediglich während einer kurzen Behandlungsphase von max. zehn
Tagen in den ersten beiden Jahren der Therapie in Tablettenform
eingenommen. Die Wirkung kann über vier Jahre hinaus anhalten.
Hinweis: Über eine Schwangerschaft kann 6 Monate nach der letzten Tabletteneinnahme im zweiten Jahr nachgedacht werden.
Fotos: Poys/Marion Kaden